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Abenteuer Königsberg

Plan und Vorbereitung

10. Februar 1992, 10 Uhr, Bonn-Hardthöhe, Bundesministerium der Verteidigung:

Morgenlage beim Verteidigungsminister Dr. Gerhard Stoltenberg:

Die beamteten Staatssekretäre, der parlamentarischen Staatssekretär, der Bürochef des Ministers und der Pressesprecher sind versammelt. Nach der täglichen Übersicht über die Weltlage, der Sicherheitslage der Republik und dem Zustandsbericht der Bundeswehr werden noch die Vorhaben der nächsten Zeit besprochen.

Der parlamentarische Staatssekretär Ottfried Henning schlägt vor, auf Grund der prekären Versorgungslage in Russland als Zeichen des guten Willens und der neuen, freundschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland eine Ladung mit dringend benötigten Medikamenten in die russische Exklave Kaliningrad, früher Königsberg, zu bringen. Man könne mit einer Luftwaffen-Boeing-707 ca. 7 Tonnen Medikamente, Verbandsmaterial und medizinisches Gerät, welches die Bundeswehr nicht mehr benötige, transportieren. Das Ganze könne man medienwirksam auch für Deutschland, die Bundeswehr und die Luftwaffe gestalten, sodaß das Prinzip gelte, keine gute Tat ohne Erwähnung. Minister Stoltenberg wendet ein, daß Königsberg doch militärisches Sperrgebiet der Russen sei und fragt, ob denn so ein Besuch überhaupt möglich sei. Henning bemerkt, daß er schon positive Signale aus Königsberg bekommen hätte.  Der Minister signalisiert schließlich Zustimmung und sagt in seiner typisch norddeutsch kühlen Art: „Ottfried, dann mach das mal, paß aber auf, daß es keine diplomatischen Probleme gibt“. Er fügt hinzu, “vorsichtshalber werde ich auch Helmut unterrichten“. Er meint damit den Bundeskanzler.

Am Ende der Lage, als alle Teilnehmer dabei sind das Ministerbüro zu verlassen, gibt mir der Minister ein Zeichen, ich solle noch bleiben: Er sagt in vertraulichem Ton: „Meyer-Ricks, Sie fliegen natürlich mit und wählen die Journalisten sorgfältig aus. Ich sage Ihnen, daß ich an sich nicht so begeistert bin über den Plan von Henning, denn Sie müssen wissen, daß er in Königsberg geboren ist und seine Heimat einfach auf diesen Wege wiedersehen will.  Also Meyer-Ricks, passen Sie gut auf den Staatssekretär auf und bloß keine delikaten Interviews“.

Für Stoltenbergs Art was das schon eine ziemlich lange Ansprache!

Nach der Genehmigung der „Hilfsaktion Königsberg“ durch den Verteidigungsminister und den Bundeskanzler, Medikamente in die die russische Enklave per Luftwaffen-Boeing zu transportieren, vergeht mit der Realisierung doch mehr Zeit als gedacht. Die russischen Behörden der Oblast (wie Regierungsbezirk) sind anfangs geradezu enthusiastisch und sehen keine Probleme, eine Luftwaffenmaschine in ihr Territorium zu lassen und eine deutsche Delegation zu empfangen. Aber es wird auch kommuniziert, daß die Genehmigung letztendlich beim russischen Präsidenten Boris Jelzin liegt. Nach einigen Tagen kommt das „Go“, eine Stunde danach: „Noch abwarten“. Klar, wir haben es mit einer neuen Administration in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu tun und die Zuständigkeiten scheinen noch nicht so deutlich geregelt zu sein.

Die Luftwaffe ist bereit, die Medikamente und Geräte stehen zur Verladung zur Verfügung und die Journalisten sind ausgewählt. Es herrscht gerade in diesem Kreis eine gewisse Nervosität, was sich in stündlichen Anrufen bei mir zeigt. Keiner von Ihnen war jemals in dieser früheren preussischen Stadt.

In den Verhandlungen im Vorfeld mit dem Gouverneur der Oblast, Juri Matotschkin, ein enger Vertrauter von Boris Jelzin, akzeptiert die russische Seite nicht nur, daß ein deutscher Offizier dabei sein würde, sondern komplett zu unserer Überraschung, bestehen nun die russischen Offiziellen darauf, daß dieser Bundeswehroffizier in Uniform anreisen solle. Sie schreiben per Fax, daß dieses ein sichtbares Zeichen der neuen Zeit und der neuen Freundschaft sei. Nun besteht auf unserer Seite die Notwendigkeit zu weiterer interner Abstimmung, hier wieder mit dem Kanzleramt, aber auch mit den Auswärtigem Amt. Die Mission mit diesem Reiseziel ist sicherlich außenpolitisch etwas heikel. Der Minister meint, wir sollten vorsichtshalber kein TV-Team mitnehmen damit keine Bilder um die Welt gingen.

Nun hatte sich inzwischen ergeben, daß ARD und ZDF zu unserer Überraschung kein Interesse an einer Berichterstattung hatten. In ihrem journalistischen Elfenbeinturm hatten diese öffentlich-rechtlichen Anstalten die historische Dimension dieser Reise (hier Gott sei Dank!) nicht erkannt. Unser rühriger „Reisemarschall“ im Pressereferat, ein älter Hauptsekretär (!),  hatte aber schon zusätzlich den NDR eingeladen, weil er meinte, Königsberg läge ja auch im Norden… Ohne Gesichtsverlust konnte diese Einladung nicht mehr rückgängig gemacht werden, was die Reise sicherlich noch spannender machte.

Endlich geht es los an einem kalten Morgen im Februar mit einer Boeing-707 der Luftwaffe vom militärischen Teil des Flughafens Köln-Wahn.

Unsere Boeing war für eine MIschkonfiguration vorbereitet; es waren vor dem Laderaum 35 Sitzplätze Marke „Holzklasse“ vorhanden, wobei unsere Delegation nur 16 Personen inklusive dem Staatssekretär umfasste. Aber wo war der Staatssekretär? Wir waren „ready to taxi“ , warteten aber fast eine halbe Stunde. Er kam spät ohne Erklärung, aber er kam.

Königsberg, Tor zum Westen

Nach nur 2 Stunden Flugzeit und einem Sandwich vom Lufthansa Caterina Service landen wir auf dem Flugplatz Chrabrowo, 25 Kilometer nordöstlich von Kaliningrad. Der Gouverneur der Oblast Kaliningrad, gerade von Boris Jelzin eingesetzt, empfängt uns auf dem Flugfeld. 

Als erster deutscher Offizier in Uniform nach dem zweiten Weltkrieg setze ich somit meinen Fuß auf das Territorium der Oblast Kaliningrad als Teil der Russischen Föderation. Zu diesem Zeitpunkt realisiere ich das noch gar nicht. Erst später bei der Pressekonferenz zum Abschluss der Reise wird das zu einem Thema.

Der Gouverneur geleitet Staatssekretär Henning und mich zum VIP -Empfangsraum. Unsere Journalistengruppe muß draußen warten, ohne Fotos, ohne Dreh des NDR und ohne Interviews. Freie Pressearbeit kennen die Russen ja noch nicht und ich habe hier nichts zu sagen! Meine Journalisten sind sichtlich unzufrieden. Kein guter Anfang.

Ohne die Möglichkeit unsere Koffer im Hotel abzustellen, geht es im Bus zum Sitz des Gouverneurs im Zentrum von Königsberg. Nur der Staatssekretär fährt in einer riesigen schwarzen Limousine der Marke ZIL voraus. Unterwegs konnten wir schon den ersten Eindruck von Königsberg des Jahres 1992 gewinnen: In den Außenbezirken ein Wechsel von neuen, aber bereits schäbig aussehenden Plattenbauten und dann wieder Viertel mit kleinen Häusern, teilweise fast Villen, viele im Fachwerkstil erbaut. Diese waren wohl typisch für die Wohngegenden des alten Königsberg vor dem Krieg. Der Kameramann des NDR drehte schon aus dem Fenster des Busses. Die Laune besserte sich etwas.

Vor dem Sitz des Gouverneurs im Zentrum, einem Bau im Stil der dreißiger Jahre, wartet der Gouverneur persönlich auf uns, um sich den Fragen unserer Pressevertreter zu stellen. In das Gebäude selbst will er wohl die Journalisten nicht hineinlassen. Eben noch der alte Geist der Sowjetunion!  Es ist kalt und feucht in Königsberg. Ich hoffe deshalb, meine Presseleute hätten nicht allzu viele Fragen, aber das Interesse ist ob dieses historischen Besuchs doch groß. Offensichtlich haben aber meinen Bitten, keine politisch sensiblen Themen, wie das zukünftige Verhältnis der Bundesrepublik zu der ehemals deutschen Provinz Königsberg zu hinterfragen, Gehör gefunden. Der Gouverneur Juri Matotschkin redet über seine Vorstellungen zur wirtschaftlichen Zukunft der Oblast, spart aber das Problem der politische Zukunft seiner Provinz, auch vor dem Hintergrund der geografischen Trennung vom russischen Kernland, aus.

Höchst interessant sind aber seine Aussagen, die er, wie er bemerkt, mit Boris Jelzin, abgestimmt hatte:

„Wir wollen Kaliningrad zu einem Vorposten des russischen Handels mit Westeuropa machen und denken an eine Freihandelszone, wie zum Beispiel Hongkong in China.“

Auf die Einwendung eines Journalisten, daß doch Sankt Petersburg schon als Fenster zum Westen vermarktet werden würde, gab Matotschkin ein Beispiel der russischen Dialektik:   

  „Ja, das stimmt, Sankt Petersburg soll das Fenster zum Westen sein, aber Kaliningrad  soll das Tor zum Westen werden. Was wollen Sie, durch das Fenster oder durch das Tor kommen“?

Königsberg, früher und heute

Nach einem  kleinen und schnellen Mittagessen mit Schinken, Würsten und Brot in einem schlichten Restaurant, klappern wir nun mehrere Krankenhäuser ab, in denen unsere Hilfsgüter schon eingetroffen sind. Das hätten wir von der russische Organisation nicht gedacht!

Wir sprechen mit Ärzten und Krankenschwestern, alle sind überaus dankbar für die Hilfe aus Deutschland und wir sind überwältigt von der Herzlichkeit uns gegenüber. Mit Patienten dürfen wir allerdings nicht sprechen.

Die Fahrt hin- und zurück durch Königsberg ist von unseren Gastgebern gleichzeitig als Sightseeing Tour geplant. Wir stoppen an den interessantesten Punkten und das Kamerateam des NDR kann einiges festhalten. Leider läßt die Zeit nicht mehr zu. Vom berühmten Königsberger Dom stehen nur noch die  Außenfassaden und der riesige Domturm. Durch die dunkelroten Ziegelsteine, vorherrschendes Baumaterial in Ostpreußen durch die Jahrhunderte, wirkt die Domruine düster und geradezu gespenstisch.

Die Kernstadt von Königsberg war im August 1944 durch englische Luftangriffe weitgehend zerstört und ein Feuersturm ließ das Dach des Domes auf der Insel im Pregel einstürzen. In der Sowjetzeit unter Leonid Breschnjew wurden viele Monumente und Denkmäler aus der deutschen Geschichte Königsberg abgerissen oder gesprengt, so wie das Königsschloss. Der Dom, der ab 1993 auf Initiative des Gouverneurs Juri Matotschkin wieder aufgebaut wurde, hatte wohl nur überlebt, weil sich an seiner Rückseite das Grabmal von Immanuel Kant befindet. Zu Kant und seinen Werken hatte die russische Intelligenz immer ein besonderes, positives Verhältnis. Die Universität Kaliningrad heißt jetzt auch „Immanuel Kant Universität“. So war Kant auch zu seiner Zeit Ehrenmitglied  der Universität von Sankt Petersburg. Auf sein Denkmal vor der Universität werden wir besonders hingewiesen. Es handelt sich aber nur um eine Kopie des Originals von 1864.

Noch unwirklicher als die Ruine des Doms zeigt sich das „Haus der Räte“, ein Hochhaus-Skelett, auf dem Boden des gesprengten Königsschlosses, das die verschiedenen Administrationen von Königsberg und der Oblast aufnehmen sollte. Unser Dolmetscher erklärt, daß dieser Bau schon vor 10 Jahren begonnen sei, dann habe man aber festgestellt, daß der instabile Untergrund so ein Hochhaus nicht tragen könne.  Man spräche jetzt in der Stadt von „Preußens Rache“! Unser russischer Dolmetscher hat keine Scheu auszusprechen, daß dieses  Gebäude auch ein Symbol für die Unfähigkeit des alten Sowjetsystems sei. Bemerkenswert diese neue Offenheit!

Es wird Zeit für einen kleinen Spaziergang durch die Innenstadt. Noch gibt es wenige Schaufenster und Auslagen, wie wir es im Westen gewohnt sind. Aber die ersten Zeichen der „Verwestlichung“ sind  schon zu sehen: MacDonald und Burger King machen sich hier jetzt schon Konkurrenz! Einige Passanten bleiben stehen und fragen, welche russische Uniform ich wohl trage. Es wird eine Art Spießrutenlaufen, aber interessanterweise durchweg im positiven Sinne: Unser Dolmetscher muß dutzende Male erklären, daß wir eine deutsche Delegation seien, die Tonnen von Medikamente mitgebracht hätte. Man freut sich, daß jetzt eine neue Zeit beginnt und der kalte Krieg vorbei ist. Es gibt sogar (peinlicherweise) Beifall für den Offizier aus dem Westen.

Wir fahren mit dem Bus zu Ottfried Hennings Elternhaus. Es scheint, daß wir durch diesen Vorort von Kaliningrad schon mal gekommen sind. Alles durchaus gepflegte Einfamilienhäuser in einer weiträumigen Siedlung. Als wir vor einem Haus halten, steht schon das Empfangskomitee bereit: Eine junge Familie mit zwei Kindern begrüßt uns per Handschlag und bittet uns und den ganzen Journalistentross ins Haus. Es ist eng, aber jedem wird eine Tasse Tee serviert. Das Gespräch zwischen unserem Staatssekretär und dem Hausherrn ist sehr intensiv und unser Dolmetscher kommt fast nicht mit. Kritisch wird es, als der Familienvater Ottfried Henning fragt, ob er beabsichtige, das Haus seiner Eltern zurückzufordern. Sie hätten das Haus von der Regierung der Oblast zur Miete bekommen und viel selbst renoviert und es wäre seit Jahren ihr Zuhause. Ich hatte den Staatssekretär auf eine derartige Situation nicht vorbereitet, aber bin sehr erleichtert, als er klarstellt, daß er persönlich überhaupt keine Ansprüche hätte. Er freue sich, daß diese junge Familie so ein schönes Heim gefunden hätte. Ottfried Henning darf sich noch alle Zimmer inklusive seines alten Kinderzimmers angucken, bevor wir nach herzlichem Abschied wieder starten.

Der Tag ist gut gelaufen. Meine Pressetruppe ist soweit zufrieden. Vom Hotel erwarten wir natürlich nichts besonderes, aber als wir vorfahren, entlockt es jedoch einigen: „Oh Gott, kann  das wahr sein“? Ja es kann! Nicht vergessen: Die Sowjetunion ist gerade zusammengebrochen und Kaliningrad und der Regierungsbezirk waren seit 1946 militärische Sperrzone. Das heißt: Keine Touristen, keine Besuche. Nur Einheimische und Soldaten!

Von innen wie von außen: das Hotel mit überraschendem Namen: „Kaliningrad“: schäbig, verrottet und kaum beheizt. Das Bad und die Toilette: besser keine detaillierte Beschreibung. Für mich als Soldat weniger ein Problem, aber für meine verwöhnten Journalisten??

Das Restaurant im Parterre ähnelt einem Wartesaal 3. Klasse der Deutschen Reichsbahn (habe ich mir von einem älteren Journalisten der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung erklären lassen), aber man kann nach einem Ein-Gang-Menü Pilsner Urquell bestellen! Der Staatssekretär meldet sich ins Bett ab. Da ein abendlicher Ausgang wohl aus Sicherheitsgründen nicht vorgesehen ist, bleibt es bei einigen oder mehreren Bieren. Übrigens – wir werden nach Deutscher Mark gefragt: zwei Bier: eine Mark! Ich spendiere gerne eine Runde.

Früh müssen wir unser „Traumhotel“ verlassen. Unser russischer Dolmetscher wartet schon ungeduldig, wohl schon die zehnte Zigarette am Morgen inhalierend.

Apropos Dolmetscher: Er ist ein Fregattenkapitän der russischen Marine und begleitet uns in zu eleganter Zivilkleidung. Er raucht eine Zigarette nach der anderen und sein ständiger Husten klingt nach TBC. Er war früher Verbindungsoffizier zur Volksmarine der DDR und spricht deshalb perfekt Deutsch. Mir ist er viel zu jovial für den Anlass und er bemerkt mehrmals, mich in Bonn besuchen zu wollen und daß wir ab sofort Freunde fürs Leben seien. Nun ja – russische Seele eben! Vielleicht ist es ja auch nur ein Versuch der Anbahnung eines Kontaktes durch den Geheimdienst KGB geht mir durch den Kopf. Nach 25 Jahren Dienst in der Bundeswehr in der Zeit des kalten Krieges ist man natürlich vorsichtig.

Kommandantur Baltische Flotte in Baltijsk

Der Kommandeur der baltischen Flotte, Vizeadmiral der russischen Marine Andrej Litwenko, hat uns kurzfristig eingeladen. Das ist eine eine Riesenüberraschung und für unsere Journalisten ein Glücksfall. Der NDR Redakteur ist begeistert.

Ab in den Bus und Richtung Westen aus Königsberg raus, auf katastrophaler Straße eine dreiviertel Stunde um das Frische Haff herum. Ostsee-Landschaft wie auf der Ansichtskarte! Wir fahren durch die Kleinstadt Baltijsk, früher deutsch: Pillau.  Am Ausgang der Ortschaft dann mehrere Posten und Wachen. Ohne Kontrolle dürfen wir passieren: wir sind offensichtlich von der russische Admiralität angemeldet worden.

Unser Bus hält vor einem imposanten Gebäude in  der typischen ostpreussischen Backsteinarchitektur, das aber überhaupt nicht wie eine Kaserne aussieht.

Vor dem Eingangstor werden wir von einem russischen Protokolloffizier empfangen und in den ersten Stock zum Konferenzsaal geführt.

Der Kommandeur der Flotte, Vizeadmiral Andrej Litwenko,  außerordentlich sympathisch wirkend, erscheint unmittelbar mit seinem Stellvertreter, einem Konteradmiral, und begrüßt den deutschen Staatssekretär, unsere Pressegruppe und seinen Gouverneur.

Dann wendet er sich direkt an mich:

„Herr Oberst, ich freue mich einen deutschen Generalstabsoffizier begrüßen zu können. Ich hoffe, Sie wissen was das bedeutet im Hauptquartier der Baltische Flotte zu sein. Vor zwei Jahren wären Sie noch auf eine Entfernung von hundert Metern vor dem Kommandogebäude erschossen worden, und heute sind Sie unser Gast“.

Diese Begrüßung konnte man später in vielen deutschen Zeitungen lesen.

Meine Pressetruppe hat gefühlt hunderte von Fragen.

Admiral Litwenkos Ausführungen zu Auftrag und Aufgaben der Baltischen Flotte entsprechend der bekannten offiziellen Sprachregelung aus Moskau:  Die Flotte sei nur zur Verteidigung des russischen Territoriums ausgelegt und bedrohe niemanden im baltischen Raum, etc., etc. . Die Baltische Flotte sei aber höchst einsatzbereit zu jeder Zeit! Alles bekannt! Daß zur Baltischen Flotte auch eine beträchtliche Anzahl von Landungsbooten gehört, erwähnt er natürlich nicht und unsere Journalisten hinterfragen das auch nicht. Ich muß mich leider zurückhalten! 

Aber unser mutiger NDR Vertreter will jetzt tatsächlich wissen, warum wir in Zeiten der neuen Freundschaft nicht den Hafen der Flotte besuchen könnten.

Welch eine nutzlose Frage! Das „Njet, Njet“ kommt  schnell und deutlich.

Dann eine Wendung, kaum zu glauben, aber wahr: Der Admiral flüstert mit seinem Vize und antwortet dann: „Warum eigentlich nicht, wenn die Gäste noch Zeit haben“! Haben wir eigentlich nicht, aber in diesem Fall selbstverständlich doch!!

Marinehafen Baltijsk

Unser Bus hält unmittelbar neben einem russischen Kriegsschiff; es könnte von der Größe her eine Fregatte sein. Wir dürfen tatsächlich alle an Bord des Flagschiffes der Baltischen Flotte kommen. Der Gouverneur, mein Staatssekretär und die zwei Admiräle voraus,  auf der Gangway wird eine Seite gepfiffen – wie in den NATO-Marinen auch.

Der Kapitän der Fregatte stellt sich selbst vor während die VIPs unter Deck verschwinden. Ich vermute, der Wodka steht schon bereit. Auf dem Deck bemerkt der Kapitän, daß ein Fernsehteam dabei ist. Geradezu flehentlich bittet er über den Dolmetscher doch nur in Richtung Südwest über das offene Hafengebiet zu filmen, das andere sei doch geheim. „Geheim“ ist berechtigt: Wir erspähen zwar 6 weitere Fregatten und 3 U-Boote an den Piers, aber trauen dann unseren Augen nicht: Ringsherum mehrere Schiffe treiben kieloben, Landungsbrücken verrottet, Kräne verrostet. Die Wasseroberfläche des Hafenbeckens voller Öllachen. Ein trostloses Bild – von militärischer Einsatzbereitschaft nichts zu spüren.

Aus unserer westlichen Sicht: Im Prinzip gut so!

Mein Herz bleibt jetzt fast stehen, denn der NDR Kameramann schwenkt seine Kamera geradezu frech immer wieder über das gesamte Hafenbecken. Auch dem Skipper bleibt wohl das Herz stehen, denn er interveniert überhaupt nicht. Mit so dreisten Besuchern aus dem Westen hat er wohl nicht gerechnet!

Die VIPs sind wieder auf Deck und zu meiner Überraschung bittet mich der stellvertretende Kommandeur, ein Konteradmiral, hinunter in seine Kajüte. Wir sprechen von Soldat zu Soldat und er besteht auf einem gemeinsamen Foto.

Wieder an Deck fragt doch so ein „unpolitischer“ Journalist den Kommandeur tatsächlich, in wieviel Stunden sein Kriegsschiff an der deutschen Ostseeküste sein könnte. Wieder fast Herzstillstand bei mir! Aber wieder auch eine Demonstration russischer Dialektik:

„Mit dieser modernen Fregatte brauchen wir nur 15 Stunden bis Lübeck. Aber kein Grund zur Besorgnis: Wir kommen nur auf gesonderte Einladung“.

Diese Aussage steht später nicht nur in vielen Zeitungen, sondern wird auch vom NDR gesendet und besonders kommentiert.

Es ist die Zeit für die Rückfahrt nach Kaliningrad, denn es steht vor dem Rückflug noch eine  Pressekonferenz mit der russischen und der lokalen Presse auf dem Programm.

Ottfried Henning sagt mir, daß er mit dem Gouverneur zurückfahre. Ich erkläre ihm, daß ich fest geplant hatte, auf der Rückfahrt im Bus ein Pressegespräch mit unseren Journalisten zu führen. Denn es bestand ja bisher noch keine Gelegenheit mit ihm selbst zu sprechen.

Warum auch immer, der Staatssekretär will unbedingt mit dem Gouverneur fahren. Als er meine einsetzende Verstimmung bemerkt, sagt er süffisant:

„In Ordnung, Herr Meyer-Ricks, ich fahre mit ihnen. Sie müssen sich aber auch immer durchsetzen“.

Stimmt!

Apokalypse und Abschluss

Gesagt – getan. Ottfried Henning steht vorn im Bus mit Mikrofon und die Journalisten haben eine Menge von Fragen.

Der Gouverneurs-Tross ist später abgefahren. Er schließt auf einer langen, geraden Landstraße zu uns auf. Der Führungswagen überholt und dann der des Gouverneurs. Uns kommt ein alter Linienbus entgegen und – ich glaube es jetzt nicht: Ein Riesenknall. Die Gouverneurslimousine  kann nicht mehr früh genug vor uns einbiegen und kollidiert mit dem Bus.

Der schwarze ZIL kommt rechts von der Straße ab, überschlägt sich und bleibt auf dem Dach liegen. Der zivile Bus bremst voll ab, kann sich aber trotz des Aufpralls auf der Straße halten.

„Alles hört auf mein Kommando: Staatssekretär bleibt im Bus, vier Männer von vorn zum Gouverneurswagen, die anderen erste Hilfe am Bus“!

Drei Passagiere werden aus dem ZIL gezogen. Am kollidierten Bus sind alle Fensterscheiben zersplittert und einige blutverschmierte Passagiere klettern aus den Fenstern, wohl weil die vorderen Türen durch den Aufprall verklemmt sind.

Überraschend schnell erreichen Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen aus Balitjsk die Unfallstelle. Ich muß meine Pressetruppe wieder einsammeln, denn die Polizei dirigiert uns Richtung Kaliningrad.

Der Schock sitzt. Besonders unser Staatssekretär ist noch blasser als sonst. Natürlich keine weiteren Fragen im Bus.

Die Pressekonferenz findet mit großer Verspätung statt, und siehe da: Wir  werden in den Konferenzraum im Amtssitz des Gouverneurs eingeladen. Geht doch plötzlich!

Ungefähr fünfzig russische Journalisten und unsere Gruppe warten eine geschlagen Stunde. Journalisten lieben so etwas!

Dann kommt – Gott sei Dank – der Gouverneur mit einigen anderen Offiziellen.

Er erklärt die Verspätung und teilt mit, daß er selbst zwar nur einige Prellungen bei dem Unfall davongetragen habe, leider sei aber sein Stellvertreter schwer verletzt und befinde sich auf der Intensivstation des Kaliningrader Zentralkrankenhauses. Die Buspassagiere hätten im wesentlich nur Schnittverletzungen erlitten.

Juri Matotschkin holt weit aus und spricht erst über Hitlers Angriffskrieg und die vollständige Niederlage Nazi-Deutschlands. Die Oblast Königsberg, das frühere  deutsche Ostpreußen, sei seitdem russisches Territorium und das bliebe auch so. Dann geht er aber über zur möglichen Freihandelszone Kaliningrads. Die russischen Journalisten wollen mehr über die zukünftige politische Zusammenarbeit zwischen Russland und der Bundesrepublik Deutschland wissen. Das bleibt aber im Vagen.

Unser russischer Dolmetscher ist ziemlich überfordert. Alles kriegen wir nicht mit.

Ottfried Henning nimmt den Faden zur engeren politischen Zusammenarbeit auf und schlägt einen weiteren Austausch, auch auf militärischer Ebene, vor. Für Kaliningrad böten sich natürlich gegenseitigen Besuche der Marinen an.

Matotschkin erwähnt jetzt zum Schluß vor der deutschen und russischen Presse, daß im Rahmen des Besuchs zum ersten Mal nach dem Krieg ein deutscher Generalstabsoffizier in Uniform diesen Teil Russlands besuche. Das wäre ein erfreuliches Zeichen für die Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten und ihren Streitkräften.

Der Gouverneur bedankt sich dann noch ordentlich für die Hilfsgüter.

Beide Seiten tauschen weiteren Dank für alles und alle aus, bis hin zum Busfahrer.

Auf dem Rückflug sind wir ziemlich müde. Klar, bei den verdichteten Eindrücken der vergangenen zwei Tage.

Trotzdem möchten einige Journalisten noch Hintergrundgespräche führen. In Ordnung, Hauptsache sie sind zufrieden mit der Reise.

Ich kann dem Staatssekretär dann aber eine Frage nicht ersparen: „ Realisieren Sie, was hätte passieren können, wenn Sie auf der Rückfahrt mit im verunglückten Gouverneurswagen gesessen hätten“? Zugegebener weise denke ich dabei an so etwas wie: Danke, daß Sie mich überredet haben, …oder so ähnlich.

Er antwortet ohne mich anzuschauen: „Ja, furchtbar. Meine Entscheidung, im Bus mitzufahren war Gott sei Dank richtig“.     SIC!

 

Prolog

Kaliningrad/Königsberg im Jahr 2020:

Nur 250 km von Warschau, 450 km von Berlin, aber 700 km vom russischen Territorium entfernt, wurde die russischer Exklave seit der Machtübernahme von Wladimir Putin systematisch militärisch aufgerüstet. Mit der inzwischen einsatzbereiten Baltischen Flotte, Armeeeinheiten mit Panzertruppen, Jagdbomber- und Jagdgeschwader und insbesondere den Raketentruppen gilt dieses Gebiet inzwischen als die am höchsten militärisch gerüstete Region in Europa. Insbesondere die ultramodernen Iskander-Kurzstreckenraketen (NATO Namen: SS-26, 500 km Reichweite), die auch mit nuklearen Sprengköpfen ausgerüstet werden können, bedrohen den größten Teil des NATO-Mitglieds Polen. Ca. 100. 000 Soldaten auf einer Fläche von der Größe Schleswig-Holsteins üben einen großen Druck auf die kleinen Nato-Staaten Litauen, Lettland und Estland aus. Von gegenseitigen Besuchen, z.B. der NATO-Marinestreitkräfte mit denen der Baltischen Flotte ist keine Rede mehr. Kaliningrad ist militärisches Hochsperrgebiet.

Die1996 eingerichtete Sonderwirtschaftszone „Jantar“ (deutsch: Bernstein) sollte den Handel mit den westlichen Ländern befördern und als „Tor zum Westen“ dienen. Zwar gibt es vor Ort eine Niederlassung der Hamburger Industrie-und Handelskammer und einige wenige deutsche Firmen sind vertreten, aber von einem Aufbruch oder einer neuen Zeit kann keine Rede sein.

Mit einem Visum können wenigstens deutsche Touristen Königsberg besuchen und sind sicherlich bei den gastfreundlichen Bürgern von Kaliningrad willkommen.

Immerhin etwas!

Jorge

Wurzeln: Deutsch / Englisch / Argentinisch Schule: Abitur deutsch Ausbildung - praktisch: Fliegerischer Dienst Jet Luftwaffe - akademisch: Führungsakademie der Bundeswehr Verwendungen u.a. : - Kommandeur Fliegerischer Dienst - vd. Verwendungen im Generalstabsdienst - Sprecher im Verteidigungsministerium - Sprecher NATO - vd. Verwendungen im Ausland

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